Potentially yours
21-10-2025 / Katrin Krumm
Ich glaube, ich kann über Begehren nur im Extremen nachdenken. In Anaïs Nins Henry and June habe ich die Stelle unterstrichen, in der sie fragt: „Is the desire for orgies one of those experiences one must live through?“ Diesen Ausdruck kann man nur bewundern. Mich fasziniert ihr Schreiben, und ich bewundere sie dafür, weil ich in meiner eigenen Sprache nie an den Punkt gelange, mein Begehren explizit zu machen, ihm Worte zu verleihen und mich dadurch zu zeigen. Wie erkläre ich mir das? Ich bin in einem streng christlich geprägten Dorf in Süddeutschland aufgewachsen. Was ich mitgenommen habe, ist eine lebenslange Auseinandersetzung mit Scham und Schuld, ein Erbe des protestantischen Geistes der Repression, der jede Spur von Erforschung unterdrückt. Darüber zu schreiben ist dementsprechend erstmal frustrierend (was nicht schlimm wäre, wenn ich das als eine Art Kink empfinden würde, aber leider ist dem nicht so).
Vielleicht ist es auch einfach nicht mein richtiger Ausdruck, und ich finde meine persönliche Wahrheit (oder meinen Zugang) in der Poesie. Aber dann glaube ich wieder, dass selbst Poesie konstruiert bleibt und von der Sprache des Begehrens abhängig ist, die sie transportiert. Trotzdem denke ich: Manche Sprachen wirken klarer als andere, vielleicht sogar „besser“, nicht nur für einen selbst, sondern für alle. Ich muss an den englischen Dichter E.E. Cummings denken und daran, wie er Sprache im Raum erforscht hat. In vielen seiner Gedichte zieht er Wörter auseinander und trennt sie in Buchstaben und Bestandteile, manchmal setzt er bestimmte Silben in Klammern. Etwas wird da frei, das nur in den Zwischenräumen entsteht. Das „Fehlende“, zwischen den Lücken und Falten des Textes, lässt etwas entstehen, das fast schon erotisch beschrieben werden kann. Ich denke: an Haut zwischen zwei Stoffschichten, den Schlitz eines Kleides oder eine leicht geöffnete Beinhaltung.
Metaphorisch gesprochen sind diese Leerstellen immer in Bewegung, sowohl historisch als auch kulturell. Die Vorstellung von Begehren befand sich schon immer in Transformation. Aristoteles sagte: „Alles, worauf wir Verlangen haben, ist auch angenehm, da das Verlangen das Streben nach Lust ist.“ Später betonte Lacan, dass jeder Versuch, Begehren eine Form zu verleihen oder auszudrücken, immer einen unaussprechlichen Überschuss hinterlässt, der nicht artikuliert werden kann. Nach Lacan ist das Objekt des Begehrens „die Form, die der Mangel annimmt, wenn er repräsentiert wird. In Wahrheit ist das Objekt des Begehrens nur Mangel, Leere, die sowohl im Imaginären als auch im Symbolischen fehlt“. Letztlich steht fest: Wir können weder wirklich wissen, was wir begehren, noch woher dieses Begehren stammt.
Wie dann zum Begehren finden? Geht man von der Psychoanalyse aus, ist die libidinöse Energie, die Kraft, die Überleben und Fortpflanzung sichert, die alles entscheidende Kraft, die unser Handeln antreibt. Immer zwischen unbewusstem Wollen und bewusstem Streben sucht sie, das Fehlende auszugleichen. Der englische Poet Richard Siken schreibt in seinem Prosatext Drug Plane: “I couldn’t bend the story to my desire. There wasn’t a place he wanted to be, so it was impossible to maneuver him into one. I couldn’t get him to choose me. Even in my imagination, I couldn’t get his shirt off.” Etwas subjektiv als fehlend empfundenes kann mittels dem Imaginären oder konkreten Handeln ausgeglichen werden, und: laut der Psychoanalyse wird sogar davon ausgegangen, dass sich das Begehren durch das Aussprechen oder Formulieren selbst bildet. Ich denke an meine Faszination für (erotische) Fanfiction. Während nach bestimmten Formen des Begehrens in der klassischen Popkultur ewig gesucht werden kann, war dies eine Art für mich und andere, wie selbstbestimmtes Begehren aussehen kann. Dazu fällt mir ein Zitat von Günter Kunert ein, der sagte, “nur Fiktionen seien Antriebe menschlicher Sehnsucht.”
Zu diesem „Darauf-Antworten“ fällt mir Francis-Whorall Campbell und die Beobachtung ein, dass sowohl in Fanfiction als auch in der Kunstkritik der Wunsch, das Fehlende weiterzuerzählen, eine libidinal-körperliche Auseinandersetzung mit dem Original darstellt. Daraus ergibt sich: Begehren ist mehr als ein biologischer Impuls; es lässt sich selbst entstehen: “(S)uch investment is often sparked by a longing or lack of resolution. The writing is born out of a desire to add something to the original in order to complete it, improve a defect, answer a question or emphasize something admired.” Was also in der Realität als (zurecht) destruktiv angesehen wird – sich in das „Potential“ von etwas oder jemandem zu verlieben – wird in der Sphäre des Imaginierten zur treibenden (positiven) Kraft des Begehrens.
Der US-amerikanische Supreme-Court-Richter Potter Stewart sagte 1964 in einem berühmt gewordenen Fall über Pornografie: “You can’t define it, but you know it when you see it.” Ich denke, dass für Begehren dasselbe gilt. Ich denke an Filme, in denen diese „Momente des Erkennens“ stattfanden: der berühmte Kuss in Eiskalte Engel, Mulan als Disneys erste trans-gelesene Heldenfigur oder Tom Cruise als unnahbarer Armand in Interview mit einem Vampir. Die Ausstellung Skizzen des Begehrens untersucht Momente des Romantischen und der Lust, queeres Erwachen und kollektive Sehnsüchte und gibt dem Begehren damit eine visuelle Form. Ähnlich wie die Versprachlichung in der Psychoanalyse Wünschen durch Sprache Gestalt gibt, verkörpern die gezeigten Arbeiten in ihrer Form materialisierte Erkundungen des Begehrens. Ausgehend von der Skizze als Ausgangspunkt versteht die Ausstellung Begehren als etwas per se Fragmentarisches und Unvollendetes. Die Leerstellen zwischen den einzelnen Ausdrucksformen, die Lücken, Falten und Zwischenräume, lassen Begehren als Prozess erscheinen, nicht als festgelegtes Objekt, und verorten es zugleich als konzeptuelle wie praktische Erkundung. Am Ende wird jede Manifestation ein Beleg der eigenen Wunschvorstellung („Utopia“), die versucht, die Konturen eines verkörperten Begehrens nachzuzeichnen. Indem die Ausstellung sowohl vergangene Momente einfängt als auch in den Arbeiten spekulative (zukünftige) Szenarien imaginiert, versteht sie die Darstellung von Begehren als gleichzeitig poetische wie politische Praxis.
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Skizzen des Begehrens
17.10. – 26.10.2025
Eröffnung: Freitag, 17.10.2025 19:00 Uhr
Geöffnet: Freitag – Sonntag 15:00 – 19:00 Uhr
Al Anders / Javier Alejandro Cerrada / David Fletcher / Maik Gräf / Simone Karl / Felina Levits / Franziska Opel
Performance von Javier Alejandro Cerrada @hxxdz: Freitag, 17.10.2025
Lesung von Lisa-Marie Fechteler @misalariefe: Sonntag, 26.10.2025 16:00 Uhr
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Vorschaubild – Detail Head Full of Windchimes, Simone Karl (Photo: ©AnneLinke)





